Unser politisches Umfeld 1978

1978 erlebten wir atmosphärisch noch unmittelbar als Folge des ‚deutschen Herbst‘ 1977 – ein unglaublich aufgeheiztes gesellschaftliches Umfeld, in dem nahezu alles, was längere Haare trug, unter  RAF-Sympathisantenverdacht stand. Schließlich bombte und mordete diese selbsternannten Stadtguerilla auch nach dem Tod ihrer Gründer weiter (eine zeitliche Einordnung bietet Wikipedia) und schürte die Hysterie. Hier eine kleine Anekdote zu diesem Thema.

Dass wir mit dieser Art ‚gesellschaftlicher Umgestaltung‘ nicht das Geringste zu tun hatten (schließlich wollten wir aufbauen, nicht zerstören) verhinderte nicht diverse nächtliche Drohanrufe und die unmissverständliche Bedrohung durch muskelbepackte Rollkommandos, die uns spätabends in unserem bald errichteten ‚Zentrum‘ besuchten. Dabei ließ sich die zu Hilfe gerufene Polizei jedesmal reichlich Zeit und zeigte dann freundschaftliche Verbundenheit beim Hinausbegleiten der Eindringlinge. Irgendwelche Unterstützung seitens der Stadt Oberursel war nicht zu erwarten. Die war seit 1978 für viele Jahre fest in CDU-Hand (wobei CDU damals ganz was anderes bedeutete als heute).

So hätten wir sicher eine handfeste Paranoia entwickelt, wären wir nicht mit dem Betriebs- und Gruppenaufbau, dem Ausbau der Krebsmühle und unseren politischen Aktivitäten so immens beschäftigt gewesen. Schließlich waren wir mit der Krebsmühle (anders als im Bonameser Hinterhof), direkt an der Hauptstraße, auf dem Präsentierteller.

Keine Zeit für Paranoia. Dafür sind die täglichen Anforderungen einfach zu groß.
Das Bild zeigt unseren täglichen Kampf mit der Realität: Der Hof muss aufgegraben werden, um eine neue Wasserleitung zu verlegen, die das alte Müllerhaus und das Mühlengebäude mit Frischwasser versorgen soll.

Und wo stehen wir?

Wir stammen aus der Tradition der ´68er, verstehen uns als Teil der undogmatischen Linken und – spezieller – der Spontis um den Frankfurter RK (‚Revolutionärer Kampf‘) mit Dany Cohn-Bendit und Joschka Fischer. Diese aus den Resten des SDS zunächst als ‚Betriebsprojektgruppe‘ entstandene Organisation hatte in der Vergangenheit politische Betriebsarbeit bei Opel in Rüsselheim versucht (und war damit gescheitert), war initiativ beim Frankfurter Häuserkampf, dem Kampf gegen Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr bei Gründung des FVV und danach damit beschäftigt, über Stadtteilzentren direkte Politik in den Frankfurter Stadtteilen zu machen.

Gerade der gescheiterte betriebliche Ansatz hing uns nach, denn klar war: ohne die Arbeiter, ohne die ‚Normalbevölkerung‘ würde es keine Revolution, keine wirklche Veränderung geben.

Was war da schiefgelaufen (hier ein ziemlich guter Bericht dazu)? Hatten wir mit unserem Beispiel, unserer ‚Propaganda der Tat‘, nicht die Lösung des Problems? Davon waren wir überzeugt – und schafften uns mit dieser selbstbewusst vorgetragenen Haltung bei den Spontis keine Freunde.

Schon mit der Übernahme der Krebsmühle galten wir dort als größenwahnsinnig, mit den ersten Erfolgen dann als ‚Kleinkapitalisten‘ und ‚Geldscheffler‘. Und jetzt auch noch unser Sendungsbewußtsein – für Jahre blieb unser Verhältnis zur Frankfurter ‚Szene‘, unserer Familie, sehr angespannt.

Entwicklung des Betriebsmodells

Die Gelegenheit war günstig: Einerseits war die Gruppe sowieso aufgeteilt. Es gab den Arbeits- und Lebenszusammenhang in Bonames und den Arbeits- und Lebenszusammenhang in der Krebsmühle. Zwischen beiden musste ein tragfähiger Kommunikationszusammenhang geschaffen werden, und zwar dauerhaft, weil wir im Laufe der Jahre – schmerzlich – gelernt hatten, dass sich zumindest der Lebenszusammenhang, die Kommune, nicht über eine bestimmte Größe hinaus entwickeln lässt. Das waren erfahrungsgemäß etwa 15 Personen. Wuchs die Gruppe über diese Zahl hinaus, verloren die emotionalen Bindungen an Intensität und wuchs die Unzufriedenheit.

Wie integrieren wir Leute ‚von außen‘?

Andererseits stieg die Attraktivität der ASH. Aus den zahlreichen Besuchern, die ‚mal reinschnuppern‘ wollten, kristallisierten sich immer wieder Leute heraus, die dauerhaft bleiben wollten. Dass darunter auch ’normale Arbeiter‘ waren, fanden wir naturgemäß faszinierend. Aber auch daraus erwuchsen neue Probleme: Wenn Leute zur ASH stießen, die zwar in einem der Betriebsbereiche mitarbeiteten, gleichzeitig aber nicht in einen der Lebenszusammenhänge aufgenommen werden konnten oder wollten, mussten wir uns Gedanken um eine Entlohnung machen. Die Gemeinschaftskasse, aus der sich jeder – nach den vorhandenen Möglichkeiten – zur Befriedigung individueller Bedürfnisse bedienen konnte, gab es zwar nach wie vor in den Wohngruppen, konnte aber für Leute ‚von außen‘ nicht funktionieren. Gleichzeitig wollten wir aber alle gleich behandeln. Wie schaffen wir es also, bei unterschiedlichem Bedarf und Bedürfnissen das neue Prinzip des gleichen Lohns für alle umzusetzen?

Der ‚Luxuslohn‘

Dafür erfanden wir den ‚Luxuslohn‘: Die gesamten Einnahmen eines Betriebsteils fließen in die Betriebskasse. Aus dieser werden die betrieblichen Fixkosten (Gewerbemiete, Versicherungen, Steuern, Fuhrpark etc., aber auch private Mieten und Kosten inklusive eines für alle gleichen Deckungsbeitrags für Lebensmittel) gezahlt. Vom Rest fließen zunächst 20% in die gemeinsame ASH-Investitionskasse. Vom verbleibenden Rest erfolgen betriebliche Entnahmen z.B. für Möbeleinkäufe. Was dann übrig bleibt, ist der in diesem Betriebsteil erwirtschaftete ‚Luxuslohn‘ (also das, was übrig bleibt, wenn alle anderen Kosten gedeckt sind). Da dieser ‚Luxuslohn‘ von Betriebsteil zu Betriebsteil unterschiedlich ausfallen kann, fließen die Luxuslöhne der verschiedenen Betriebsteile wieder zusammen in eine ASH-Luxuslohn-Kasse. Aus dieser errechnet sich nach den insgesamt abgeleisteten Arbeitsstunden der – jetzt gleiche – Luxuslohn für jeden, der – wenn hoffentlich vorhanden – ausgezahlt werden kann.

Der Betriebsaufbau der ASH Anfang 1979:

Auf diesem Modell beruhte unsere Überzeugung, ein Grundmodell für die Selbstverwaltung aller Betriebe entwickelt zu haben. Im Jahr 2021, in dem dieser Text entsteht, mag das merkwürdig anmuten. Aber damals waren wir mit heiligem Ernst dabei.

Aus dem selben Gedanken entstand im Oktober 1978 unsere (heute auch eher belustigt zu lesende) erste Betriebsverfassung.

BETRIEBSVERFASSUNG DER ASH, Oktober 1978

Das SB in Offenbach

Die Spontis in Frankfurt waren nicht die einzigen udogmatischen Linken dieser Zeit. Gleich nebenan, in Offenbach, war der Sitz des Sozialistischen Büros (SB).  Ziel des SB war die Vereinheitlichung der sozialistischen Kräfte in der BRD. Das SB wurde 1969 gegründet und war bis Ende der 1990er Jahre aktiv. Das SB war mit dem eigenen Verlag 2000 GmbH Herausgeber der Zeitschriften links und express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit.

Die ‚Express‘ war für uns als Sprachrohr hoch interessant, weil sie von linken Gewerkschaftern, Betriebsräten und Vertrauensleuten gelesen wurde, die an oppositionellen und organisationskritischen Meinungen interessiert waren. Dies war ja genau die Zielgruppe für unsere Propaganda, wenn wir in Kontakt zu Betrieben und mit diesen in einen Dialog kommen wollten.

Von der Zukunftswerkstatt zur Express-Beilage

Hoch erfreut waren wir daher, als wir vom SB zu einer Zukunftswerkstatt in Hamburg eingeladen wurden. Dies war ein Vorbereitungstreffen für den geplanten Kongress „Großer Ratschlag – Soziale Protestbewegungen und sozialistische Politik“, der 1980 in Frankfurt stattfand und von 5.000 Teilnehmern besucht war. Zum Vorbereitungstreffen in Hamburg und einem weiteren in Nürnberg waren wir als Vertreter der neuen sozialen Bewegungen eingeladen. Zwar gingen unsere Delegierten bei beiden Treffen angesichts der Wortgewalt der Diskutanten ziemlich unter – sie hatten aber klugerweise jeweils ein als ‚Grußwort‘ deklariertes Papier dabei. Das konnte zwar ebenfalls nicht verlesen werden, wurde aber in den von uns besuchten Arbeitsgruppen in ausreichender Anzahl verteilt. So kam es dann später zu intensiveren Kontakten, vor allem zu den Redaktionsmitgliedern der Express.

Nach viel Hin und Her (die Traditionalisten beim SB und beim Express konnten wenig mit uns anfangen, die Verunsicherten und nach neuen Lösungen Suchenden um so mehr) haben wir es dann  geschafft: wir erhielten Gelegenheit, die ASH mit ihrer Organisation, Zielen und politischen Perspektiven selbst darzustellen.

Zum SB hielten wir noch länger Kontakt und hatten SB-Gruppen häufig als Gäste, nachdem wir unsere Seminarräume hergerichtet hatten. Zu Betriebsleuten haben wir über die Express-Beilage zwar keinen unmittelbaren Kontakt knüpfen können – wohl aber fanden wir Aufmerksamkeit in Gewerkschafts(jugend)kreisen bis hin zur (Bundes-)SPD.

Kritischer Rückblick

Sehr lange konnten wir unser Betriebsorganisationskonzept im eigenen Betrieb nicht durchhalten. Die vielen nötigen Delegiertentreffen – anfangs begeistert wahrgenommen – erwiesen sich als zu rigide und ermüdend. Vor lauter Willen, einen modellhaften, für die Gesellschaft umsetzbaren Betriebsaufbau zu planen und durchzuführen, hatten wir unsere eigenen Bedürfnisse zu sehr hintangestellt.

Das Thema selbst war damit aber bei uns keineswegs ‚durch‘. Im Gegenteil nahm die Diskussion um betriebliche Selbstverwaltung jetzt erst richtig Fahrt auf.

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