Das Ende der ‚alten‘ ASH

Am 12.10.1989 wurde das letzte Info-Buch der Gruppe begonnen, in dem eine Reihe von Plena und Sonderplena der Gruppe protokollarisch festgehalten sind.

Es ist ein Dokument des rapiden Verfalls. Appelle an Verantwortlichkeit und Zusammengehörigkeit zeigen im wesentlichen nur, dass es beides nicht mehr gibt. Die Plena sind verzweifelte Versuche einiger weniger, wieder Struktur in die Abläufe zu bringen. Sie sind äusserst dürftig besucht und beschäftigen sich nur noch mit den Krisen in den Arbeitsbereichen, weitergehende, gar politische Themen gibt es nicht mehr.

Ein letzter Versuch, mit einem Betriebscafé ein neues ASH-Wohnzimmer zur Verstärkung der Gruppenkommunikation aufzubauen, wird zwar durchgeführt, scheitert aber sehr schnell an allgemeiner Interesselosigkeit: eigentlich will man die anderen gar nicht mehr treffen, die Beziehungen sind zu tief belastet oder gar nicht erst aufgebaut.

Der Verfall der Ökonomie ist dramatisch, die Einnahmen im März 1990 betragen nur noch die Hälfte der Einnahmen vom März 1989. Die Stiftung Umverteilen konnte schon 1989 nur noch mit den Zinsen bedient werden, Kreditrückzahlungen waren unmöglich. Nun stehen zusätzlich auch die Zinszahlungen in Frage. Die Belieferung der Laugerei mit den notwendigen Chemikalien ist gefährdet, weil Rechnungen nicht bezahlt werden können, das gleiche gilt für die Flüssiggas-Lieferungen der TEGA. Und immer wieder Thema: es ist kein Geld da, um Löhne auszuzahlen.

Der Zusammenbruch

Der letzte Eintrag im Infobuch stammt vom 24.4.1990. Danach ist Schluss mit Plena und dem Versuch, über das Infobuch die interne Kommunikation zu organisieren.

Mittlerweile war es – mit Unterstützung eines Computerprogramms von Ralph und seinem Softwareteam – gelungen, den Wust an offenen Rechnungen und zweiten und dritten Mahnungen so weit zu ordnen, dass der Schuldenberg  aus aktuellen Verpflichtungen für den Verein und die Krebsmühle GmbH  mit 1,3 Millionen DM ermittelt werden konnte. Dazu würde noch das kommen, was an Abfindung an die Disco-Betreiber zu zahlen wäre. Eine schier unvorstellbare Summe, zumal von den Ende ´89 noch vermerkten 31 Gruppenmitgliedern nur noch 7 übriggeblieben waren, der Rest hatte sich davongemacht.

Wie sollten diese 7 Hanseln (und Greteln) damit fertig werden? Was blieb überhaupt an Optionen? Die Krebsmühle ganz oder teilweise verkaufen und mit dem Erlös die Schulden decken? Einfach aufgeben?

Die Geschichte der ASH in der Krebsmühle besteht bei genauerer Betrachtung aus einer wahren Kette von Krisen und Rückschlägen. Immer wieder war es uns aber gelungen, uns gegenseitig zu motivieren und sozusagen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Die Basis dafür war die Gruppe und das Selbstverständnis, Teil eines wichtigen gesellschaftlichen Experiments zu sein. Politische Erfolge ließen uns vergessen, dass wir Schritt für Schritt ursprüngliche Ansätze und Überzeugungen hatten aufgeben müssen. Nun aber – mitten im Trubel der ‚Wende‘ – war die Gruppe zerschlagen und der Rest der Meute nicht mehr in der Lage, politisch aktiv zu werden. Nie zuvor war der Einbruch so tiefgreifend gewesen. Und nie zuvor war das Ende so greifbar nahe.

Neustart als ’normaler‘ Betrieb

Da die Krebsmühle noch steht und nach wie vor dem HSH e.V. gehört, ist klar, dass auch diesmal Lösungen gefunden wurden. Im Kern bestand diese Lösung darin, nun endlich (und erstmals) die Ökonomie nicht mehr als notwendiges Übel zu betrachten und quasi ’nebenher‘ mitlaufen zu lassen, sondern diese in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns zu stellen. Alle Überlegungen und Entscheidungen mussten ab sofort streng daraufhin abgeprüft werden, ob sie ’sich rechneten‘, d.h. einen positiven Beitrag zur Gesamtökonomie leisten würden.

Aktive Geschäftsführung

Wieder musste ein lange gehegter und gepflegter Grundsatz aufgegeben werden. Die Firma ohne Chef gab es nun nicht mehr,  die Krebsmühle GmbH wurde zum ’normalen‘ Betrieb mit Geschäftsführung und Geschäftsführungskompetenz. Dass diese Aufgabe – wenn auch widerwillig – von Karl Bergmann übernommen wurde (dem vehementesten Vertreter der Idee der  Firma ohne Chef), gehört zu den Volten, die das Schicksal manchmal schlägt.
Die Geschäftsführung und Kontrolle beim Verein wurde parallel von Bine Joswig übernommen.

Die nachfolgenden Jahre sind geprägt von dieser (äusserst produktiven und kreativen) Zusammenarbeit und Aufgabenteilung. Dabei bleiben die Entwicklung der Krebsmühle GmbH (der ‚eigenen Betriebe‘) und des HSH e.V. zunächst so stark miteinander verbunden, dass sie im Folgenden (noch) nicht getrennt beschrieben werden können.

Trotz aller Einsicht in Notwendigkeiten waren die folgenden Jahre immer noch geprägt vom alten ASH-Denken und dem Wunsch, möglichst viel von den alten Zielen und Überzeugungen zu erhalten.

Die für diese Periode wichtigsten Personen:

Sabine (Bine) Joswig. Architektin, Künstlerin, Energiebündel, immer gut für eine kreative Idee, die aus der Krise führt.
Karl Bergmann. Urgestein (Dinosaurier), Gründer, Geschäftsführer bei Krebsmühle GmbH, Textline GmbH, SV Vertriebs GmbH, Antika GmbH und -später- HSH e.V.
Regina Engel. Freundin von und emotionale Stütze für Bine, übernimmt die Vereinsführung und die komplette Büroorganisation, absolut verlässlicher ‚Fels in der Brandung‘.
Volker Morawitz. Mitgründer und jahrelanger Betreuer unseres Flüchtlingsprojekts, übernimmt später die Vereinsführung von Regina.
Edmund (Eddi) Beran. Kommt aus schwierigen Verhältnissen (Kölner Rocker-Milieu) zu uns, entwickelt sich zum Bauleiter und später zum Hausmeister der Krebsmühle.
Anne Hanke. Alt-ASHlerin, schon immer die Seele des Antikladens, Putzfrau, Designerin, Verkäuferin und Restaurateurin  in einer Person.
Vincenzo Molinaro. Seit frühen Jahren in der Krebsmühle und Überbleibsel unserer Italiener-Brigade, Baumensch, Kellner im Restaurant, Laugerei-Chef und wichtiger Mitarbeiter im Laden, ein echter Allrounder und sich für nichts zu schade.

Bine im Vereinsbüro Ende 1989
Bine im Vereinsbüro Anfang 1990

Die ‚Ära Bine‘ beginnt

Bine ist nicht zufällig auf die Krebsmühle gestoßen, sondern wurde – als gerade ausgelernte Architektin – von uns gefragt, ob sie nicht ein Gesamtkonzept für den weiteren Ausbau der Krebsmühle entwickeln wolle. Dass dies nicht bei ein paar Terminen blieb, sondern ab Juli 1989 zu einer echten Mitarbeit in der Gruppe wurde, war nicht abzusehen. Noch weniger, dass sie später eine neue Ära der Krebsmühle begründen und diese – nebenbei – vor dem Untergang bewahren würde.

Dies ist allemal Grund genug, sie hier ausführlich vorzustellen und zu würdigen. In einem Brief an die Stiftung Umverteilen hat sie am 1.7.90 ihre (politische) Herkunft, Situation und Motivation selbst beschrieben:

Bine Joswig

Ich bin jetzt fast genau ein Jahr hier, eine ziemlich kurze Zeit angesichts der nun fast 15 Jahre, die es dieses Projekt direkt am Rande des künftigen Wirtschaftszentrums Europas gibt. Trotzdem bin ich in eine Position reingerutscht, wo ich täglich mit der Verantwortung über 25 Personen und dieses riesige Gelände zu tun habe. Eine Verantwortung, die mir angesichts des Schuldenbergs und der sehr unsicheren Zukunft oft Bauchschmerzen macht.

Ich bin damals von Karl gefragt worden, ob ich ein Gesamtkonzept für die Planung der Gebäude entwickeln will. Für mich war klar, von ‚draußen‘ kann man für ein solches Projekt nichts planen, also habe ich gesagt – was auch meinem Verständnis von Planung überhaupt entspricht -,  dann ziehe ich ganz hierher und baue ein stichhaltiges Konzept mit den Leute vor Ort auf.

Ich bin schon mit 15 Jahren in die Selbstverwaltung reingewachsen (Jugendzentrum, CONTRASTE, Wohnprojekte in Kassel und zum Schluss die ‚Weiberwirtschaft‘ in Berlin). Ich hatte im März 1989 bereits eine Wohnung in Berlin und wollte mit Ricarda Buch weiterarbeiten an der Genossenschaft für Frauen, eben der ‚Weiberwirtschaft‘. Das Konzept war fertig und lag schon bei Momper auf dem Schreibtisch. Aber ganz befriedigt hat mich die Perspektive nicht. Wir hätten eine ABM-Stelle für mich beantragt und dann wäre verhandelt worden, diskutiert worden, theoretisiert worden, weil es keinen konkreten Ansatz gab – und bis jetzt auch nicht gibt-, sprich: es gibt für die ‚Weiberwirtschaft kein Gelände in Berlin.

Nicht, dass ich die Projektidee nicht gut finde, nur für mich, habe ich gemerkt, ist das nichts. Ich will anpacken, die Ärmel hochkrempeln und loslegen, nicht abwarten, bis irgendeine staatliche Stelle einen Zuschuss bewilligt oder Ähnliches. Ich kann politische Arbeit auch nicht nach Feierabend machen. Hier in der Krebsmühle – habe ich gemerkt – kann ich alles verbinden, meine beruflichen Kenntnisse, meine politischen Vorstellungen und meine Erfahrungen, mein Engagement, meine Ideen, meinen Kopf und meinen Bauch – und das Ganze nicht in Papieren, sondern ium Alltag und der Realität.

Wie sehr das Projekt allerdings damals schon am Boden lag, wusste ich nicht und wussten auch alle anderen nicht. Dass es finanzielle Schwierigkeiten gab, war klar, aber der Eindruck, den das ‚Büro‘ vermittelt hat auf den Plenen etc. war der, dass man alles noch in der Hand hätte. Dass dem absolut nicht so war, habe ich mit brutaler Härte erfahren, als Susanne im März innerhalb von ein paar Tagen den Löffel geschmissen hat und ich alleine vor einem Schreibtisch saß, auf dem sich in einem völligen Durcheinander unbezahlte Rechnungen, unbeantwortete Briefe und aller möglicher Papierkram zu zehn Zentiemetern hohen Stapeln angesammelt hatte; eine Zeit, wo alle 5 Minuten das Telefon klingelte und ich einen aufgeregten Gläubiger beruhigen musste, in der der Gerichtsvollzieher mir fast täglich seine Aufwartung machte, wo es niemanden im Betrieb mehr gab, der nicht mindestens eineinhalb Löhne im Rückstand war, dabei Kollegen mit Familie und bis zu 4 Kindern. Vielleicht wäre es das beste gewesen – und das sagt mir meine Mama wöchentlich am Telefon, weil sie sich Sorgen um meine Gesundheit macht – den Löffel gleich wieder zurückzugeben und zu sagen ‚Leckt mich doch!‘ Warum soll ich, wo es doch so viel anderes zu tun gibt, mich jetzt hier mit Schulden herumschlagen, die ich gar nicht gemacht habe? Die goldenen Jahre sind vorbei. Über 250 Leute haben sich hier ausgelebt und ihren Spaß dabei gehabt. Die sind jetzt fast alle weg und ich sitze vor einm Berg von Problemen. Dieter wollte mich wieder voll für die CONTRASTE haben, die TAZ wollte mich in Hamburg, Ricarda wollte mich für die ‚Weiberwirtschaft‘ und meine ganzen Kasseler Freundinnen wollten mich auch zurück.

Was mich dann gehalten hat und immer wieder hält, ist die Skyline von Frankurt mit ihren immer höher wachsenden Protztürmen von Macht und Kapital, der ich hier auf diesem Gelände an der Stadtgrenze (leider ‚Grenze‘, denn nicht einmal von den Zuckerbrötchen einer Stadt wie Frankfurt können wir hier profitieren. Wir gehören nun mal zu Oberursel und Oberursel ist schwarz wie die Nacht, geizig und hinterwäldlerisch) etwas entgegensetzen will. Ich werde mich nicht damit abfinden, dass unsere Ideen und Utopien gescheitert sind …

Und weiter geht´s

Bine prägt – nicht nur als Architektin – die folgenden Jahre. Statt zurückzugehen zu ihren Freundinnen nach Kassel, hat sie im Gegenteil diese (und viele Leute mehr aus ihrem persönlichen Umfeld) zur Unterstützung in die Krebsmühle geholt. Ohne Bine und ihre Freund*innen gäbe es zwar heute wohl immer noch eine Krebsmühle, aber sicher nicht unsere Krebsmühle im Besitz des HSH e.V.

© Hilfe zur Selbsthilfe e.V.